Müggelheimer Bote
8. Jahrgang, Ausgabe 01/2002  
Januar 2002 Home  |  Archiv  |  Impressum


Aus dem Leben eines Schneidermeisters

Der 90-jährige Müggelheimer Paul Graßmann erinnert sich

Seine Markenzeichen sind tadellos sitzende Kleidung - zurückhaltende Eleganz, wie man es von einem Meister seiner Zunft erwartet.

Mehr als ein halbes Jahrhundert lebte und arbeitete der Herrenmaßschneider-Meister Paul Graßmann an der Birkweiler Straße in Müggelheim. Gelassen und entspannt schaut der heute 90-Jährige auf ein langes, arbeitsreiches und oft entbehrungsvolles Leben zurück.

Korrekt in Schale geschmissen: der ehemalige Schneidermeister Paul Graßmann. Foto: Winkelmann
Aufgewachsen im Berliner Wedding, sein Vater war Tischlermeister, hatte der Junge Paul zunächst wenig mit einem Handwerk im Sinn. „Schon als Kind hatte ich immer Kreide oder einen Bleistift in der Hosentasche. Alles was mir malenswert erschien, brachte ich auf einen Zeichenblock”, erinnert sich Paul Graßmann. Doch schon damals war mit Kunst nicht viel Geld zu verdienen. So lernte der Junge den Beruf des Schneiders und hatte bereits mit 25 Jahren (1936) den Meisterbrief in der Tasche, wie er sich noch heute stolz erinnert.

Die Leidenschaft zur Malerei schob er dennoch nicht beiseite. Immer wieder zog es ihn aus dem grauen Wedding hinaus in die Natur. Er bevorzugte die Landschaftsmalerei. Motive fand er am Grunewaldsee, aber auch in Müggelheim. Er begann Öl auf Leinwand zu malen, Aquarelle und unzählige Zeichnungen entstanden. In Müggelheim malte er Bauern bei der Ernte, die Felder, Wiesen, Wälder und Seen.

Es gab noch eine andere Motivation Müggelheim oft zu besuchen. Die gebürtige Müggelheimerin Elsbeth Marx, sie ist auch Schneiderin, hatte es ihm angetan. 1938 wurde geheiratet. Der Sohn kam zur Welt. Heute, nach 63 Ehejahren durch dick und dünn, sind Paul und Elsbeth Graßmann noch immer glücklich miteinander.

Im 2. Weltkrieg war Paul Graßmann Soldat, danach in russischer Gefangenschaft. In Russland konnte er in seinem Beruf arbeiten und erlernte die russische Sprache. Zuhause in Berlin wurde Familie Graßmann viermal ausgebombt. 1947, der Ehemann und Vater war aus der Gefangenschaft entlassen, wurden die Graßmanns in Müggelheim sesshaft. Eine neue Existenz wurde aufgebaut. In seiner Schneiderwerkstatt an der Birkweiler Straße beschäftigte er mehrere Gesellen und bildete Lehrlinge aus. „Arbeit hatte ich genug. Aufträge kamen auch von der russischen Botschaft. Wir nähten für die Russen vom Major aufwärts . . . Nur hatten sie es immer besonders eilig. Mit den Worten dawai, dawai (schnell) glaubten sie, ein Anzug oder Mantel würden eher fertig.”

Viele prominente Künstler, darunter Kapellmeister, und Geschäftsleute ließen sich bei Schneidermeister Graßmann einkleiden. „Einen Geschäftsmann, den Großwarenhändler Julius Meysel, Vater von Schauspielerin Inge Meysel, werde ich nie vergessen,” sagt der Schneidermeister. Nach seinem unfreiwilligen Asyl bei Gertrud Meinecke während der Nazizeit (Meysel war Jude und wurde in Müggelheim im Keller der Familie Meinecke vor den Nazis versteckt) ließ er nach dem Krieg seine Garderobe in der Schneiderei Graßmann anfertigen. „Er war recht eitel, still, aber auch rast- und ruhelos”, erinnert sich der alte Herr. Für seine Anzüge hätte er immer beste englische Qualitätsstoffe mitgebracht. „Julius Meysel war ein angenehmer Mensch. Aber während einer Anprobe rauchte er so viel, dass nachher zwei Aschenbecher voll waren.”

In Müggelheim stabilisierte sich das Leben. Es gab wieder Erntefeste, an arbeitsfreien Tagen traf man sich im Siedlerverein zu einem Schoppen oder zum Bier. „Die Müggelheimer hielten einfach mehr zusammen, das ist heute nicht selbstverständlich. Die Arbeit riss doch nie ab. Es musste Holz gehackt, das Haus instand gehalten werden. Handwerklich half man sich dabei untereinander. Auch Kohlen mussten geschleppt werden, denn wer hatte in Müggelheim schon eine moderne Heizung?”, erinnert sich der 90-Jährige. Ende der 70er-Jahre hätte kaum noch einer Lust gehabt, als Schneidergeselle zu arbeiten - obwohl genug Arbeit vorhanden gewesen sei.

Seit dem Frühjahr 2001 leben Paul und Elsbeth Graßmann in einem Köpenicker Seniorenstift. Seine drei Enkeltöchter und alle Familienangehörigen besuchen sie oft. An den Wänden ihres gemütlichen Zimmers hängen die schönsten Bilder des Künstlers Graßmann. Mehr als hundert hat er im Laufe seines Lebens gemalt.

„Wir werden gut versorgt hier im Altenheim. Manchmal treffe ich im Flur eine junge russische Pflegerin, mit der ich in ihrer Heimatsprache spreche. Ob sie wohl ebensoviel Sehnsucht nach ihrer Heimat hat, wie ich nach meinem fünf Kilometer entfernten Müggelheim? Irgendwie sind wir mit dem Herzen jeden Tag in unserem Haus in Müggelheim”, fügt Paul Graßmann etwas wehmütig hinzu. Möge das Ehepaar Graßmann noch viele gute, gemeinsame Jahre haben. wi.

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