Fridolin

Eine wahre Geschichte aus Müggelheim

von Gisela Binde

Eines schönen Junimorgens im Jahr 2012 um sechs Uhr saß er erstmals auf dem Außenfensterbrett der Küche inmitten unserer Kakteen. Knopfaugen in einem niedlichen Gesicht mit dunkler Maskierung schauten meinem Mann beim Rasieren zu. Er taufte ihn Fridolin. Das war der Beginn unserer Bekanntschaft mit den Müggelheimer Waschbären.

Am gleichen Abend lernte auch ich Fridolin kennen. In der Dämmerung spazierte er im Schatten der Büsche zielstrebig am Gartenzaun entlang. Als er zum Nachbarn überklettern wollte, erwischte ihn mein Fotoapparat. Damals war Fridolin noch scheu und forcierte sein Tempo, wenn er merkte, dass er nicht allein im Garten unterwegs war.

Am gleichen Abend. Wir hatten auf der Terrasse ein Spiel der Fußball-EM angeschaut, nur ein paar Kerzen zur Beleuchtung. Die Tür dahinter, für uns nicht gut einsehbar, stand weit offen wie immer. Das Spiel war gegen 23 Uhr zu Ende, wir löschten die Kerzen und gingen ins Haus. Plötzlich kam uns ein Waschbär entgegengetrottet. Es war der neugierige Fridolin. Wann er durch die Tür gekommen war, was er in der Zwischenzeit alles "besichtigt" oder in Flur und Küche getrieben hatte, wir wussten es nicht. Offenbar meinte er, unser Haus sei nun das seine. In diesem Moment des sich unverhofft Begegnen wirkte er friedlich und gesittet, fast wie ein Rauhaardackel auf Abwegen. Keine Kühlschranktür stand offen und auch sonst wies nichts darauf hin, dass er sich an unserem Eigentum vergangen hätte. Er hob lediglich den Kopf auf meine Frage "was machst du denn her?" und trottete gesittet wieder nach draußen, nachdem ihm mein Mann den Weg in den Garten gewiesen hatte. Seitdem bewachen wir unsere Außentüren.

Der Sommer 2012 ging vorbei und Fridolin war Geschichte. Seltsame Erzählungen von Schweinebraten, die von Terrassen spurlos verschwunden waren, machten die Runde. Auch mehrten sich die Geräusche von "Katzen" auf den Dächern, auf unseren und denen der Nachbarn. Meisenknödel verschwanden zuhauf, auch solche, die frei an dünnen Zweigen hingen. Manchmal fanden wir im Garten ein zerfetztes Kunststoffnetz, dem man ansah, dass es keineswegs von Meisen zerbissen worden war. Langsam ahnten wir, wer der Knödelliebhaber sein könnte und wurden immer kreativer im Auslegen des Vogelfutters, das den nachts durch unseren Garten ziehenden Katzen ganz gewiss nicht schmeckte.

2013 ließen wir unser Dach neu decken. Der Dachdecker fragte uns, ob wir einen Hund hätten, denn auf dem Dach hätte er einen Hundehaufen entdeckt. Wir selbst hatten zuvor auch schon etwas entdeckt, was dort nicht hingehörte - einen Tennisball. Da wir weder einen Hund hatten, der sein Geschäft auf Dächern erledigt noch einen Tennisplatz in der Nähe, kauften wir eine Wildkamera mit Bewegungsmelder und Infrarotlicht, um die seltsamen Vorgänge um unser Haus beobachten zu können. Wir wollten gern wissen, wer uns bestiehlt, belärmt und – ja auch "beschei…" im wahrsten Sinn des Wortes.

Schon das erste Foto war ein Treffer. Fridolin stieg aufs Hausdach, um nach nächtlicher Futtersuche seinen Schönheitsschlaf über den Tag hinweg in unserer Attika zu halten. Nun erklärten sich auch die Überkopfgeräusche in Schlafzimmernähe, die uns in der Dämmerung nervten. Kurze Zeit später erwischten wir ihn in flagranti, wie er abends vom Hausdach abstieg, in unseren damals noch offenen Kompost eintauchte und mit einem angefaulten Apfel in der Schnauze wieder hochkam. Am nächsten Tag lag ein schwerer Deckel auf dem Kompostkasten. Seine Antwort: Ein dicker Haufen mitten auf die Abdeckung! "Ich schei….euch was" mag er dabei gedacht haben.

Dann filmten wir ihn, als er auf einem dünnen Rohr balancierend einen Meisenknödel von einem weit überhängenden Zweig herabpflückte, wozu er eine ganze Weile und mehrere Versuche brauchte. Fortan hängten wir das Vogelfutter frei schwebend in der Mitte einer waagerecht gespannten Schnur auf, darauf hoffend, dass Fridolin noch nicht Seillaufen kann. Waschbären sind nämlich sehr intelligent und lernfähig.

Gewisse Muster waren nun erkannt. Wir beobachteten den Übeltäter an allen möglichen Stellen auf dem Hausdach und im Garten. Einmal ging uns dabei sogar ein junger Fuchs in die Fotofalle. Morgens um halb acht sprang er aufs Dach, wahrscheinlich ein Spätaufsteher.

In diesem Jahr erkannten wir auch unseren Irrtum in der Namenswahl unseres ungebetenen Hausgenossen. Fridolin war nicht mehr allein. Zwei kleine "Fridoline" folgten ihm beziehungsweise ihr.

Auch wenn die Tiere nicht ins Haus hineinkriechen konnten, störten sie uns. Sie machten zu Unzeiten Geräusche, pinkelten aufs Dach und durchstreiften nachts den Garten. Saßen wir auf unserer Terrasse, so saßen sie gleichzeitig über uns in der Attika. Anfang machte es noch Spaß, die Tiere mit einem Reisigbesen aufzuscheuchen und durch die Attika zu jagen. Vor allem bei Besuchern aus der Stadt oder aus von Waschbären freien Gegenden machten wir damit mächtigen Eindruck. Aber die Tiere gewöhnten sich schnell daran, dass unter ihnen "Leute" saßen und ertrugen mit stoischer Ruhe bald auch die von unten durch die Schlitze im Holz heranfahrenden Stacheln des Reisigbesens, der sie in den Hintern stach und wegtreiben sollte. Mehr noch: Wenn sie abends in der Dämmerung vom Hausdach herabstiegen um auf Nahrungssuche zu gehen, zogen sie sich anfangs noch zurück, wenn ich um die Ecke kam. Aber bald blieben sie sitzen und warteten, bis ich wieder verschwunden war nach dem Motto "was stört die uns in unserem Revier"? Sie wussten ganz genau, dass ich ohne Leiter nicht aufs Dach steigen kann. Schließlich musste ich sogar mit Kiefernzapfen nach ihnen werfen oder mit dem Besen drohen, damit sie endlich verschwanden.

Waschbären sehen niedlich aus. Hätte sich aus unserer Begegnung irgendeine klitzekleine Zusammenarbeit ergeben, z. B. indem die Waschbären mir ein wenig beim Unkrautzupfen geholfen hätten anstatt im Sommer 2015 unseren Sauerkirschbaum komplett abzuernten, oder hätten sie nachts die in unsere Beete kackenden Füchse und Katzen zur Disziplin gerufen…vieles wäre möglich gewesen in einer Kooperation und ich hätte gewiss über den abgeernteten Kirschbaum hinweggesehen. Aber nicht so!!!

Als unsere Wildkamera im Frühsommer 2015 eine Bärenfamilie mit inzwischen 4 Jungtieren auf unserem Garagendach in mehreren lustigen Szenen aufnahm, war unsere Geduld am Ende. Die Bärchen plumpsten in der Dachrinne herum, hampelten über das Dach und schauten von der Attika auf die Straße herab wie Menschen von einem Aussichtsturm. Sie wussten, dass wir machtlos waren und reizten ihre Freiheiten immer mehr aus. Irgendwann hatten sie auch die Filmkamera auf dem Dach entdeckt. Wir besitzen mehrere Videos mit hübschen Bärenporträts und auch einige Aufnahmen, in denen das Licht der Infrarotleuchte genutzt wird, um sich direkt vor der Kamera das Fell zu putzen. In 3 Jahren sind 1000 Aufnahmen entstanden, von denen mehr als ein Viertel Treffer waren, allesamt Videos von 20 sec Länge.

Die beiden großen Waschbärenpopulationen in Deutschland gehen auf die im Jahr 1934 im Edergebirge ausgesetzte Tiere zurück und auf die 1945 durch einen Bombentreffer in einer Pelztierfarm bei Strausberg freigekommenen Tiere. Heute soll es in Kassel und Umgebung etwa 100 Tiere pro Hektar geben. Davon sind wir in Müggelheim derzeit noch weit entfernt.

Coyoten sind die natürlichen Feinde der Waschbären in ihrer ursprünglichen Heimat Nordamerika. Darum suchen die niedlichen Tierchen Dachböden oder andere höher gelegene Schlafgelegenheiten auf, auch wenn es in Deutschland keine Coyoten gibt. Dieses Verhalten ist ihnen genetisch so einprogrammiert. Gern suchen sie auf Dächern Ziegel, die etwas leichter sind, z. B. abgeschnittene Eckziegel, schieben diese auf, dringen ein und ziehen sie hinter sich wieder zu, ohne dass der Hausbesitzer etwas davon merkt. Im Dachboden zerstören sie dann die Isolation, bauen sich daraus Schlafplätze und legen Latrinen an. Leerstehende Häuser, wie es sie auch in Müggelheim gibt, ziehen Waschbären magisch an.

Da wir es leid waren, ungefragt Unterkunft zur Verfügung stellen zu müssen und wir uns auch nicht mehr aufs Hausdach pinkeln und zulärmen lassen wollten, sannen wir auf Abhilfe und beauftragten eine Spezialfirma aus der Kasseler Gegend, die unser Haus waschbärsicher machen sollte.

Der Monteur kam schnell. Er baute einen Weidezaun rund um unser Dach, der dem tierischen Treiben ein Ende bereiten sollte. Den Erfolg der Maßnahme überwachten wir mit unserer Wildkamera. Wir sollten den Strom nie ausschalten, aber darauf gefasst sein, dass es nach ein paar Tagen etwas lauter würde in unserer Attika. Irgendwann würde der Überlebenswille siegen und der Stromschlag beim Hinabklettern in Kauf genommen werden um nicht zu verhungern. Das Schutzprogramm mittels Elektrozaun ist abgestimmt mit Waschbärforschern von der Universität Leipzig und auch mit dem Tierschutz.

Vier der fünf Bären verließen in den nächsten Tagen wie vorhergesagt auf irgendeinem Weg unser Hausdach. Nur einer der Jungbären traute sich nicht, den elektrischen Zaun zu überwinden, wie wir anhand unserer Aufnahmen feststellten. Jeden Abend schaute er nach, ob der Zaun noch da ist. Er biss in ihn hinein, schlug mit der Tatze danach und holte sich dabei manchen elektrischen Schlag ab. Aber er gab nicht auf, wurde jedoch täglich etwas dünner. Irgendwann schien dann der Hunger über den Stromschlag gesiegt zu haben, denn der junge Bär war plötzlich auch weg.

In gewisser Weise waren wir froh, die Waschbären auf diese Art beschäftigt zu wissen, denn auf unserem Weinspalier hing in jenen Tagen ein halber Zentner Trauben. Ich wusste, dass Waschbären reife Trauben mögen und bangte jeden Tag, dass sie das Weinspalier entdecken könnten. Das Kunststoffnetz gegen Vogelfraß um die fast reifen Trauben hätte sie kaum abgehalten, wussten wir doch, wie sie im Winter die Netze der Meisenknödel zerfetzt hatten, um an das begehrte Futter zu kommen.

Zwei Tage später filmten wir, wie zwei junge und ein alter Waschbär den Elektrozaun von unten überwanden, indem sie einfach hindurchkrochen und den Elektroschlag an der Schwanzwurzel hinnahmen. Sie waren wieder in unserer Attika, ihrem vertrauten Zuhause angekommen! Ein Marder hingegen bezahlte den Versuch mit einem Stromschlag, dem sogleich ein weiter Rücksprung folgte. Jedoch ein junger Fuchs überwand nachts auch den Elektrozaun und kletterte unter Inkaufnahme eines Schlages aufs Garagendach. Ich schickte das Video mit dem Fuchs an die Firma aus Kassel und erbat Abhilfe. Als der Monteur wiederkam, um die Anlage umzubauen, erzählte er mir, dass wir inzwischen eine gewisse Berühmtheit im Kreis der Kasseler Jägerschaft erlangt hätten. Dort hatte noch keiner einen aufs Dach kletternden Fuchs gesehen. Berlin ist ja auch die Hauptstadt, dachte ich dazu. Und dort gibt es alles, auch "Dachfüchse".

Jetzt haben wir einen Zaun auf dem Dach, der in der Spannung einer Pferde- oder Rinderkoppel gerecht wird und dessen elektrischer Schlag auch durch ein dickes Waschbären- oder Fuchsfell spürbar ist. Seitdem ist Ruhe. Den Wettlauf um die reifen Weintrauben haben wir auch gewonnen. Wir dürfen nur nicht vergessen, den Strom auszuschalten, wenn wir selbst mal auf unser Hausdach müssen. Sonst würde es uns wie den Waschbären ergehen… und das tut verdammt weh.

Waschbären sind sehr intelligent. Haben sie vor 20 Jahren noch ein Fallrohr gebraucht, um auf ein Dach zu kommen, schaffen sie dies inzwischen auch über eine nackte Hausecke. Mechanische Abweiser sowie Stachel- und sogar Natodraht stellen für sie auch keine Hindernisse mehr dar, erzählte uns der Kasseler Monteur.

Ich spinne seinen Gedanken weiter: Wenn die Waschbären in den nächsten 20 Jahren möglicherweise noch intelligenter werden, bekommen sie vielleicht auch heraus, wie wir sie ausgetrickst haben. Dann stehlen sie irgendwann den Schlüssel für unsere Garage, um die dort installierte Stromquelle abzuschalten, d.h. einfach den Stecker zu ziehen, damit sie wieder in ihr Schlafquartier kommen. Was lassen wir uns dann einfallen?