Müggelheimer Bote
6. Jahrgang, Ausgabe 11/99  
November 1999 Home  |  Archiv  |  Impressum


Inhalt

Gewerbetreibende erbost: Ausbau der Straße 635 ist wichtig

9. November: Erinnerungen und Emotionen

10 Jahre Ökumenische Versammlungen - ihre Bedeutung damals und heute

Der staubige Weg vom Schandfleck zur Grünanlage

Ein Jahr: Wirtschaftskreis zieht Bilanz

Traditioneller Weihnachtsmarkt diesmal an zwei Tagen

Sammelaktion für neue Rettungsstation war illegal

Parkplatzmangel am Friedhof

Vorsicht: Schwarzwild auf Achse

Wahlen '99 - wie wählte Müggelheim?

Neue Infos: wie heht es weiter mit Schönefeld?

Starke Männer lassen Bäume purzeln

Den Straßennamen auf der Spur (Teil III)

Eltern schwangen Pinsel in der Schule

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© 1999 Müggelheimer Bote

Zuletzt aktualisiert am 08.11.1999

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9. November: erinnerungen und emotionen

Eine Umfrage unter alten und jungen Müggelheimern

Es ist schon merkwürdig. Da hat das Jahr 365 Tage zur Verfügung und immer am gleichen Tag – über die Jahre hinweg betrachtet - überschlagen sich die Ereignisse.
Am 9. November 1917 war es, als sich die Bolschewiki unter Lenin in Rußland an die Macht putschten. Die „Oktoberrevolution” in Rußland war der Beginn der bolschewistischen Diktatur mit verheerenden Folgen für Rußland, Europa und Asien.
Dem 9. November 1918 wird auch die Novemberrevolution in Deutschland zugeordnet. Philipp Scheidemann ruft in Berlin die Republik aus. Damit endete die Monarchie; Kaiser Wilhelm II. flieht nach Holland.
Am 9. November 1923 startete Hitler mit dem Marsch auf die Feldherrenhalle in München seinen ersten Versuch, eine Diktatur in Deutschland zu errichten. Dieser wurde von der Polizei zusammengeschossen. Adolf Hitler wurde vom Gericht zu einem Jahr Gefängnis in Landsberg am Lech verurteilt und hat dort „Mein Kampf” geschrieben.
Der 9. November 1938 (Kristallnacht) war historisch gesehen einer der dunkelsten Novembertage der Geschichte. Ein Jude ermordet in Paris den deutschen Botschafter Ruth. Die Nazis nehmen das als Anlass, die Synagogen in Deutschland anzuzünden und den Juden gewaltige finanzielle Lasten aufzudrücken. Später folgten die Verhaftungen und Abschiebungen in die Konzentrationslager.
Die jüngste historische November-Revolte haben die meisten von uns vor zehn Jahren selbst erlebt. Am 9. November 1989 fiel die deutsche Mauer. Wie einige Müggelheimer diesen Tag erlebten und welche Gefühle zehn Jahre nach dem Ereignis die Menschen bewegen, wollen wir hier nun kurz darstellen.

Susanne Wedemeier

Susanne Wedemeier wohnte damals noch in Johannisthal. Sie hat die Nachricht aus der „Aktuellen Kamera” erfahren. Nach den Worten von Herrn Schabowski hat sie sich zunächst nur über die vermeintliche Bürokratie geärgert, denn sie glaubte, noch immer unnötig viele Formulare für die Reise „nach drüben” ausfüllen zu müssen. Sie ist früh ins Bett gegangen. Am nächsten Morgen wurde ihr zwar klar, wie einfach es jetzt doch war, dennoch ging sie erst zur Arbeit, bevor sie am Abend nach Berlin-West gefahren ist. Sie denkt immer noch gerne an diesen 9. November zurück und hat „immer wieder Tränen in den Augen.”

Gertrud Ruden

Gertrud Ruden weiß noch, daß dieser Tag der Stichtag für die Geburt ihrer Zwillingsenkel war. Doch wie das so ist, kommen Zwillinge früher. Frau Ruden war an diesem Tag im Krankenhaus, um ihre Tochter und die Enkelkinder zu besuchen. Die Nachricht über den Fall der Mauer nahm die Rentnerin mit Freude auf, weil sie nun auch ihren noch in Arbeit stehenden Mann zu Besuchen der Verwandtschaft mitnehmen konnte. Eine große Erleichterung stellte es für sie dar, dass die Kontrollen wegfielen: „Ich konnte die Nacht vorher nie Schlafen.” Heute muss Frau Ruden feststellen, dass die Zusammengehörigkeit unter den Menschen nachgelassen hat. Gertrud Ruden erinnert sich auch noch mit Schrecken an den 9. November 1938, als sie als junge Frau in der Friedrichstraße mit ansehen mußte, wie die Nazis die Schaufensterscheiben der jüdischen Geschäfte zerschlagen haben. „Ein furchtbares Erlebnis.”

Sabine Zorn

Sabine Zorn hat am „Tag der Wende” ihre Schwiegereltern zum Flughafen gebracht. Auf dem Nachhauseweg hörte sie mit ihrem Mann die Nachricht aus dem Autoradio. „Für eine Weile war Funkstille”, erinnert sich Frau Zorn. Sie ist trotzdem erst zur Arbeit gefahren („Ich habe die Müggelheimer Kaufhalle mit Ostprodukten dekoriert”). Ihr Kollege hingegen – ein sehr junger Mann - habe „blau gemacht”. Denkt sie heute über all das nach, befällt Frau Zorn vor allem Existenzangst: „Familie und Beruf sind nicht sicher, überall muss man die Ellenbogen einsetzen.”

Bruno Görisch

Bruno Görisch spielte nach der Arbeit Tischtennis im Verein. Die Freundin eines Kollegen überbrachte die Nachricht: „Die Mauer ist offen!” Gemeinsam ist die Tischtennistruppe nach dem ritualisierten gemeinsamen Essen zum Grenzübergang Chausseestraße im Wedding gefahren. Noch heute überwältigt von den damaligen Erfahrungen sagt der zweifache Vater: „Da war die Hölle los!”

Familie Müller

Gabi und Bernd Müller sahen am 9. November 1989 im Kino Astra „Otto – Der Film”. Auf dem Heimweg haben sie die Nachricht von der Maueröffnung im Autoradio gehört und es nicht glauben wollen. „Wir dachten, die Meldung gelte nur denen, die einen Ausreiseantrag gestellt haben”, berichtet Gabi Müller. Als die Tagesschau die Botschaft bestätigte, „haben wir uns in den Armen gelegen und geweint.” Da Bernd Müller am nächsten Tag noch zur Arbeit gehen mußte, ist die Familie mit der damals einjährigen Tochter Sabrinaerst am Wochenende „den Westen erkunden gefahren.” Dennoch hatte Frau Müller Angst, dass die Grenze am Montag wieder geschlossen werden würde. „Es war eine unbeschreibliche Euphorie”, erinnert sich die Müggelheimerin. Heute lässt die fehlende Sicherheit ein vages Gefühl des Unmutes in ihr aufsteigen. Dennoch will die Familie die Reisefreiheit nicht mehr missen. „Auch das Einkaufen in der DDR will ich nicht mehr zurück. Entweder musste man lange nach den Körben anstehen oder die Bananen waren schon alle.” Bernd Müller gibt zu bedenken, daß die Vereinigung doch zu schnell ging und „viele Sachen aus dem Osten platt gemacht wurden.”

Susanne Kottke

Susanne Kottke verbrachte den geschichtsträchtigen Tag ohne Radio und Fernsehunterhaltung allein in ihrer Studentenwohnung. Als am nächsten Tag ein Kommilitone ihres Englischseminars der Humboldt-Universität fragte, ob sie „heute früh schon drüben war”, folgte ein ungläubiger Blick. Da sie sehr neugierig auf die andere Hälfte der Stadt war, fuhr sie abends mit ihrer Mutter hinüber, „um in Ruhe alles anzuschauen.” Heute trägt die zweifache Mutter gemischte Gefühle in sich. „Zu viel wurde über den Haufen geworfen, was doch nicht schlecht war.” Sie führt als Beispiel Schulmaterialien an, die ihre Arbeitskollegen weggeworfen haben, die heute dringend gebraucht würden. Auch die hohe Arbeitslosigkeit sorgt bei der Lehrerin für Unmut. „Aber die Freiheiten genieße ich auch. Wenn man Arbeit hat, überwiegen die Vorteile. Schade nur, dass der Zusammenhalt verloren gegangen ist. Auf der Arbeit streckt jeder die Ellenbogen raus.”

Hans Beeskow

Hans Beeskow hat die Nachricht aus dem Fernsehen nicht geglaubt. Erst als am nächsten Tag die Nachricht von der offenen Grenze noch immer verbreitet wurde, dachte er nicht mehr an ein Missverständnis. Am übernächsten Tag ist er mit seiner Frau Ingeborg in den Westteil der Stadt gefahren. „Das Gefühl damals war spannend und angenehm, denn meine Mutter, Schwester, Tante und mein Cousin leben drüben”, er innert sich unser Müggelheimer Kutscher. Rückblickend meint Hans Beeskow, daß alles nicht so gekommen ist, wie gedacht, der Zusammenhalt der Menschen sei schwächer geworden und die Auftragslage schwieriger. „Auch die Zahlungsmoral ist schlechter geworden”, beklagt der Fuhrunternehmer. Dennoch fühle er sich freier.

Ursula Stahlberg

Ursula Stahlberg hörte in Radio und Fernsehen vom Fall der Mauer. „So sehr ich mich auch über die Einheit Deutschlands freue, muss ich beim 9. November doch vor allem an die schreckliche Progromnacht der Nazis 1938 denken.” Die Seniorin hat damals als Verkäuferin bei einem Juden gearbeitet und musste mit ansehen, wie „fleißige und strebsame Menschen, die niemandem etwas zu Leide getan hatten, von einem zum anderen Tag zerstört wurden.” Ihr fallen sofort viele schlimme Situationen der Judenverfolgung ein, „ihr Schicksal hat mich damals wie heute sehr berührt.”

Hans-Werner Maire

Hans-Werner Maire kam am 9. November gegen 18 Uhr von einem Besuch seiner Verwandten in West-Berlin zurück - also wenige Stunden, bevor Schabowski die Öffnung der Grenze im Fernsehen bekannt gab. „Da ich schon oft eine Reiseerlaubnis gehabt hatte und die strengen Kontrollen kannte, wunderte ich mich diesmal sehr - alles ruhig, keine Kontrollen, wir gingen einfach so durch.” Die Einheit Deutschlands bewertet er, und wird es auch immer tun, als positiv. Allen Menschen die Arbeit hätten, ginge es unstrittig besser, als vorher. „Aber ob man Arbeit hat oder sie behalten kann hänge ja häufig nicht einmal vom fachlichen Können ab.” Über die Zukunft mag er lieber nicht nachdenken, denn die soziale Ungerechtigkeit kann seiner Meinung nach kein gutes Ende nehmen.

Irene Kruschke

Irene Kruschke denkt bei dem Tag im großen Rahmen. „Immer waren es große Umbrüche mit der bangen Frage nach der Zukunft.” Erstaunlich, dass sich der 9. November 1989 wie die Perle an einer Schnur nahtlos in die Geschichte ein reihe. Für sie war es ein ganz normaler Arbeitstag bei den Kindergartenkindern. „Als alle friedlich beim Mittagsschlaf lagen, erinnerte sie sich, dass ihr genau am 9. November vor 27 Jahren die Leitung der Kindertagesstätte angeboten wurde. Als sie abends nach Hause kam, wollte sie sich nur entspannen und schaltete weder Radio noch Fernsehen an. Am nächsten Tag kam die Verwirrung über die unglaublichen Meldungen. „Dann wurde mir das Einmalige der Situation bewusst. Das Zauberwort Reisefreiheit sollte Realität werden.” Sie empfand große Freude darüber, dass ihr Vaterland nun sicherlich bald wieder eins sein würde. „Im Geiste hörte ich meinen Vater 1961 sagen: ‚Mädel, du wirst es noch erleben, dass Deutschland wieder vereinigt wird. So eine Spaltung mitten durch das Herz (die Hauptstadt) ist etwas Unnatürliches und wird nicht von Dauer sein.’ Sie dauerte aber doch sehr, sehr lange und mein Vater konnte den Fall der Mauer nicht mehr mit erleben.” Bei ihrem ersten Besuch ging sie über die Oberbaumbrücke. „Das war ein Drängen und Schieben. An der ersten Ecke auf Westberliner Boden wurden wir gleich mit Apfelsinen und Schokolade begrüßt”, erinnert sie sich. Heute fährt man gemächlich über die in alter Schönheit wiederhergestellte Oberbaumbrücke. Wo sind die Jahre geblieben? Unserer Stadt haben sie jedenfalls Aufbau und Fortschritt gebracht, meint sie. Zusammengestellt von Heike Schmidt und Irene Kruschke

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