Gedanken aus Müggelheim

von Simone Jacobius

Manchmal frage ich mich allen Ernstes, ist das noch das Deutschland, in dem ich groß geworden bin, das, in dem ich leben möchte? Ich habe gelernt, dass Hilfsbereitschaft ein hehres Gut ist. Ich habe noch gelernt, dass man Jüngere beschützt und nicht verprügelt, dass man in Bussen und Bahnen aufsteht, um Älteren, Kranken oder Schwangeren Platz zu machen. Ich habe gelernt, dass es ein absolutes No-go ist, Menschen, die schon am Boden liegen (physisch wie auch psychisch), noch weiter zu treten. Ich habe Menschen über die Straße geholfen, habe mit dem Auto angehalten, wenn jemand vor mir ganz langsam mit seinem Krückstock über die Straße taperte und habe nicht noch zusätzlich Gas gegeben. Soll die Alte doch hinfallen, ist doch eine Mordsgaudi – das scheint heute eher in Mode zu sein.

Thema Moral: Ich bin bestimmt kein Moralapostel, weiß auch das Leben zu genießen. Aber Mitmenschlichkeit ist für mich ein hohes Gut – und das bleibt in der heutigen Gesellschaft zunehmend auf der Strecke. Oder wie sonst ist es zu verstehen, dass Menschen, nur weil sie nicht deutsch sind, in aller Öffentlichkeit geschlagen oder angespuckt werden. Wie kann es sein, dass sich jede Woche Tausende zu einer Demo zusammenfinden, um mit ihren Hetzreden im übertragenden Sinne noch einmal zuzutreten, anstatt ihnen die Hand zu reichen und hoch zu helfen? Wie ist es zu verstehen, dass man Menschen, die vor Krieg und Elend geflüchtet sind, die Angst um ihr Leben hatten, über wilde Äcker laufen und sie bei Nässe und Kälte stunden-, wenn nicht gar tagelang im Freien, ungeschützt warten lässt - darunter kleine Kinder, Babys und hochschwangere Frauen?

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das erste Baby, das erste Kleinkind dieses Martyrium nicht mehr aushält, war dieser Tage in den Tageszeitungen zu lesen. Helfer hatten Alarm geschlagen ob der teilweise unmenschlichen Zustände, mit denen wir Flüchtlinge empfangen.

Es steht dabei völlig außer Frage, dass das richtige Management bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu wünschen übrig lässt. Auch, dass Verwaltungsprozesse beschleunigt werden müssen und nicht alle Flüchtlinge bleiben können, steht außer Frage. Nichtsdestotrotz kommen diese Menschen nach Deutschland, weil sie Hilfe benötigen, weil sie ihre Heimat, ihr Zuhause verloren haben. Und bis ihr Status geklärt ist, das heißt asylberechtigt oder nicht, so lange stehen wir in der moralischen Pflicht, ihnen zu helfen.

Ich denke, jeder Mensch hat Hilfe verdient, der sie benötigt. Und das völlig unabhängig von seiner Religion. Schließlich hoffe ich, dass auch mir jemand hilft, in Deutschland oder anderswo, wenn ich einmal in die Lage geraten sollte, Hilfe zu benötigen. Und das muss nicht unbedingt ein Krieg sein, es reicht ja schon, wenn ich mich verletze und Hilfe benötige. Ich frage mich, wo fängt die heutige Hilfsbereitschaft an und wo endet sie? Worauf kann man sich heute noch verlassen?

Vielleicht sollten wir alle mal darüber nachdenken, wie wir selber gerne in solchem Fall behandelt werden wollten und das dann auch auf die Menschen anwenden, die jetzt gerade unser aller Hilfe benötigen. Und zwar weil ein ganzes Volk Angst vor Terror und Tod hat, für sich selbst, für seine Frauen und Kinder. Kaum einer von uns hat einen Krieg leibhaftig mit erlebt, kaum einer weiß, wie es ist, wenn um einen herum die Bomben prasseln, man nachts nicht schlafen kann, weil die Einschläge immer näher kommen. Kaum einer von uns kennt Todesängste. Daran sollten wir denken!

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