Gedanken aus Müggelheim

von Simone Jacobius

Manchmal tun mir die Kinder von heute etwas leid. Denn ich glaube, den rasantesten und gravierendsten Wandel unseres Daseins haben wir bereits hinter uns. Und ich muss sagen: Mich erfüllt es mit Stolz, wenn ich daran denke, was ich alles noch live erlebt habe. Wie ich leibhaftig Teil der Geschichte geworden bin, die Geschichte ein Teil von mir. Und ich bin der Meinung, dass solche Erfahrungen durchaus Persönlichkeitsbildend sind. Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bin noch keine hundert, habe keine Kriege erlebt und trotzdem viel Geschichte miterlebt. Klar, dass gerade in diesen Tagen der Fall der Mauer mit seinen spannenden Wochen davor besonders präsent ist. Ich hatte noch Jahre später ob der emotionalen Komponente, Tränen in den Augen, wenn das Gespräch auf diesen Tag kam.

Aber ich habe auch noch viele andere Erinnerungen aus einer Zeit lange davor. Können Sie sich noch an die Busse erinnern, in die man hinten einsteigen konnte mit einer offenen Plattform? Oder an die schwarzen Kohlenmänner, die mit ihren Kiepen Zentner um Zentner über Kellerrutschen in die Häuser schleppten? Aber auch an die alten Brauereikutschen mit ihren großen stämmigen Pferden, die die schweren Gefährte jeden Berg hochzottelten denke ich gerne. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, wo ich nicht angeschnallt auf der Rückbank des Autos lümmeln durfte (nicht mehr erstrebenswert heutzutage), wo wir keinen Fernseher und keine Waschmaschine hatten. Die Wäsche wurde in einem großen Zuber auf dem Herd sauber gekocht. Und dann hatten wir zuerst eine separate Wäscheschleuder Zuhause, bevor sich meine Eltern dann irgendwann die Waschmaschine leisten konnten. Ich habe als Kind auch Schokoladensuppe und Klunkersuppe geliebt. Kennen Sie nicht? Kein Wunder. Wie ich erst viel später erfuhr, war das schlichtweg ein Arme-Leute-Essen, das meine Mutter der Not gehorchend für mich und meine Schwester gekocht hatte.

Ich glaube, dass gerade diese Möglichkeit Vergleiche zu ziehen, vielen Heranwachsenden fehlt und sie dadurch zu wenig Halt im Leben haben. Ich fühle mich auf jeden Fall geerdet mit dem Wissen der Vergangenheit. Seitdem meine Kinder auf der Welt sind, wird ihr Leben von Technik geprägt. Und sonst? In ihren gut 20 Lebensjahren hat sich längst nicht so viel verändert wie in meinen ersten fünf Jahren. Vielleicht liegt darin auch ein Grund, dass viele der jungen Menschen so orientierungslos durchs Leben treiben und erst spät – manche noch später – den Sinn ihres Lebens erkennen. Auch der vielfach fehlende Mut, sich auf eine Sache festzulegen, mag der schnelllebigen Zeit in stetem Wandel geschuldet sein.

Wir können und sollen die Zeit nicht zurückdrehen, beileibe nicht. Aber ein bisschen mehr innehalten, den Blick auf wesentliche Dinge zu lenken, das täte allen gut. Auch Gespräche mit der Jugend über die Vergangenheit sind da ein wichtiger Baustein. Denn, wie die Veranstaltung zum 80. Geburtstag der Grundschule zeigt sind die Kinder durchaus interessiert am Leben in der Vergangenheit. Je älter sie werden, desto intensiver fragen sie nach – nicht unbedingt immer nach jedermanns Geschmack. Aber auch konstruktive Auseinandersetzungen über die Vergangenheit zeigen unseren Kindern ihre Wurzeln und geben ihnen so wieder mehr Halt. Lassen Sie es uns versuchen und unseren Schatz der Erinnerungen miteinander teilen.