Großwildjagd in Müggelheim

oder auch warum Nachbarn so wichtig sind

Von Hilla Uppenkamp

BODO RAMM

Das ist nicht der Keiler aus dem Wohngebiet, aber einer aus unseren Wäldern..

Es ist Gründonnerstag, die Sonne scheint, der Hund döst – so zumindest bei meinem letzten Gang ins Wohnzimmer – auf der Terrasse, ich stehe gedankenverloren am Herd, bald werden wir zu Mittag essen.
Plötzlich stürmt der Hund in die Küche, laut bellend, ist wütend, versucht, mich zu animieren, nach draußen zu gehen, bleibt aber selber jedesmal an der Schwelle zur Terrasse stehen. Ich gehe zurück in die Küche, war wahrscheinlich wieder nur eine Krähe.
Dann ein aufgeregtes Rufen von der Terrassentür: „Komm bitte schnell, hilf mir mal, da ist ein Wildschwein im Garten, hat schon versucht, mich zu attackieren, versteckt sich aber jetzt – ich weiß nicht, wo!“
Mein mit einer langen Mistgabel bewaffneter Mann rennt zur Hofeinfahrt und öffnet das große Tor (hoffend, das Schwein verlasse das Grundstück ordnungsgemäß), ich gehe durch die Haustür, finde eine Mistgabel (deutlich kürzer als die meines Mann), fordere den jagdlich Interessierten, aber sich vor Wildschweinen, weißen oder beigen Puschelhunden und brüllenden fremden Männern zu Tode fürchtenden Labrador-Pointer-Mix mit „Such! Such!“ auf, den Eindringling zu stellen. Dieser stürmt über den schmalen Grünstreifen auf meinen auf der Einfahrt stehenden Mann zu, der Hund läuft weg, der Mann brüllt und hält die Gabel auf das sich im Schweinsgalopp auf ihn zu bewegende Tier, sticht zu. Der Treffer sitzt, Blut tropft von der Stirn, das Schwein nimmt Reißaus, – in die falsche Richtung, hin zum anderen Ende des sehr großen Grundstücks.
Wir wissen, dort ist der Zaun zum Nachbargrundstück marode, wahrscheinlich auch die Eintrittspforte. Also bewegen wir uns über die Straße zum Nachbarn, dort ist die Toreinfahrt weit offen, der Nachbar ist aufgerüstet mit einer Mistgabel, seine Besucherinnen berichten, ein lahmendes Schwein sei zusammen bei ihrer Ankunft vor etwa 20 Minuten an den Autos vorbei auf das Grundstück und dann direkt zum Loch in unserem Gartenzaun gelaufen.
Und dann kommt es, sieht den tapferen Ritter Furchtlos mit der Mistgabel und attackiert! Der Kämpfer fällt und das Schwein stürzt sich auf den Liegenden. Ich stehe – mit der kurzen(!) Gabel im Abstand von vielleicht zwei Metern neben Knäuel von Mensch und Tier und brülle, schreie, fuchtele mit der „Waffe“. Ich hatte gehört, dass man mit Schreien und Sich-groß-machen Schweine abwehren könne. Ja, meine Aktion zeigt große Wirkung, der wirklich wütende Überläufer lässt vom am Boden liegenden Mann ab, geht vier Schritte zurück und stürmt, deutlich lahm, auf mich zu. „Treffer!“ Das Schwein rammt seine Nase an mein rechtes Schienbein, tritt mir auf den rechten Fuß, schlägt mit dem Kopf gegen mein linkes Knie. Aber auch ich habe einen Treffer gesetzt, das Tier weicht zurück.
Mittlerweile steht der Ritter Furchtlos wieder auf seinen Beinen. Das Schwein erinnert sich: Das war doch der, der mir richtig weh getan hatte – und rast wieder auf den Mann zu. Der versucht nun, um das dort geparkte Auto herumzulaufen, steht dann aber wieder abwehrbereit mit der Mistgabel in Gefechtsstellung, setzt einen Treffer - und wird wieder gefällt. Mittlerweile sind etliche Nachbarn mit unterschiedlichen „Hieb- und Stichwaffen“ zur Hilfe geeilt (war es mein Gebrüll?), gehen in Richtung Kampfgeschehen. Wildschweine sind bekanntlich klug, unser Delinquent erkennt: Die sind jetzt in der Überzahl – und flüchtet, wieder in Richtung des ihm bekannten Lochs in unseren Garten.
Ich bekomme die Anweisung, den zwar mittlerweile angeleinten und vom Geschehen weitab gehaltenen Hund wegen seines ungebührlichen Gebells ins Haus zu bringen. Da, an unserem Tor, – der neue Nachbar, – aber ohne Waffe! Ich will ihm meine kurze Mistgabel in die Hand drücken: „Hier xxx, hilf uns bitte!“. Der winkt ab: „Nee, muss ich nicht mitmachen!“
Der Notarzt wird gerufen zur Versorgung des arg malträtierten Ritters, um den sich einige Helfende kümmern. Andere Nachbarn verteilen sich zur Abwehr des zu erwartenden nächsten Angriffs im weiten Areal unseres Gartens. Plötzlich schießt das Schwein aus dem Gebüsch auf den „Bolzplatz“ unserer Enkel, wo unser Nachbar von gegenüber zusammen mit meinem Mann sofort eine „Mauer“ bildet. Beide spießen ihre Waffen in das völlig verrückt gewordene Tier. Aus meiner mittlerweile sehr sicheren Beobachterposition im Wohnzimmer dauert dieser Kampf ewig.
Irgendwann sucht der Eindringling das Weite, findet das geöffnete Tor, läuft humpelnd in Richtung der Laubenkolonie. Unser mit meinem Mann in der Mauer gestandene Nachbar ist blutüberströmt, – Fremdblut (vom Schwein), – mein Mann und ich stinken wie eine Schweinerotte, meine Verletzungen sind schmerzhaft, aber nicht schlimm. Beim Nachbarn Ritter Furchtlos haben sich Sanitäter und Polizei eingefunden. Nun bei uns zuhause die Frage: „Was tun? Das Schwein ist aggressiv, greift Menschen an.“ Also rufe ich Simone Jacobius an „Brauche die Nummer vom Stadtjäger, bitte.“
Hat sie nicht, aber empfiehlt mir, die Revierförsterei anzurufen und dort Hilfe zu erbitten. Der dortige Telefonanrufbeantworter informiert mich, dass in Coronazeiten auch Revierförster schlecht zu erreichen sind. Glücklicherweise habe ich eine mobile Telefonnummer in meinem Handy; also schnell eine Whatsapp-Nachricht mit dem Sachverhalt geschickt, die Antwort kommt prompt: „Bitte Polizei informieren!“ Mein Mann sagt, dass die Polizisten noch beim Nachbarn seien, eilt dorthin... und kommt frustriert zurück. Die Polizisten seien nicht zuständig, hätten nicht die richtige Ausrüstung, wir sollten den Fall bei der zuständigen Revierförsterei anzeigen. Also schreibe ich wieder eine Whatsapp-Nachricht an die mir bekannte Nummer; postwendend die Antwort: „Eigentlich ist die Polizei zuständig, da sich das Schwein im Siedlungsgebiet befindet. Aber hier die Nummer des Forst-
amtes. Bin im Urlaub.“
Und natürlich ist im Forstamt am Nachmittag des Gründonnerstags in Coronazeiten niemand zu erreichen.
Jetzt bin ich etwas wütend, rufe die 110 an und lasse mich belehren, dass es keine aggressiven Wildschweine gebe und keine Gefahr in Verzug sei. Es braucht meine maximale Arroganz und den Hinweis, dass ich Tierärztin sei, um endlich durchzudringen mit meiner Bitte, irgendwen zu dem vermuteten Versteck zu schicken.
Nach gut einer Stunde frage ich bei einer Nachbarin, die nahe dem Zufluchtsort des verwundeten Tieres wohnt, ob sie was gehört habe. Ja, ihr Mann habe mehrere Polizeiautos am besagten Grundstück gesehen und fünf Schüsse gehört. Wir alle schließen daraus, dass dieses Schwein den Nachmittag nicht überlebt hat.
Das letzte Kapitel unserer Schweinejagd aber ist ein lustiges: Augenzeugen nämlich berichteten, dass sogar ein voll besetzter Mannschaftwagen der Polizei angerauscht sei, mehrere Polizisten in voller Kampfausrüstung mit Plexiglasschilden stiegen aus, schoben sich ähnlich wie bei Kreuzberger Mai-Krawallen in Richtung des vermutenden Verstecks – und dann fielen fünf (5!) Schüsse. Dann kam noch ein Auto zum Ort des Geschehens, ihm entstieg ein in Zivil gekleideter Mann, entnahm dem Kofferraum einen Gewehrschaft, schraubt dem einen längeren Lauf an, ging auf das Grundstück und soll dort noch einen Schuss auf das schon tote Tier abgegeben haben.
Das Fazit dieses spannenden Nachmittags: Ein in der Notaufnahme mit vielen Stichen an Kopf und Finger zusammengeflickter, aber wie immer gut gelaunter Ritter Furchtlos, fast ausschließlich mutige und hilfsbereite Nachbarn (Danke Patrick, aber beim nächsten Mal bitte keine Plastikharke mitbringen!), ein seltsamer Beigeschmack im Hinblick auf die Hilfsbereitschaft unserer Revierförster, etwas furchtsame Polizisten – und ein toter Überläufer.
Ach ja, gerade hörte ich, dass der große Keiler noch immer dort herumlaufe, wo der Überläufer sein Leben beendete.