Partnerschaft mit Erndtebrück

Ein Rückblick 30 Jahre nach der Wiedervereinigung

Von Anke Schwedusch-Bishara

KARIN TUNSCH

Die Erndtebrücker 2015 in Berlin: Besuch der Mauer-Gedenkstätte gemeinsam mit den Müggelheimern.

In diesem Monat werden wir daran erinnert, dass vor 30 Jahren, knapp ein Jahr nach dem Fall der Mauer, die Teilung Deutschlands endete. Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung existieren nur noch sehr wenige der früher zahlreichen und wichtigen Partnerschaften zwischen Kirchengemeinden aus Ost- und Westdeutschland. Eine davon ist die Partnerschaft zwischen der Ev. Kirchengemeinde Müggelheim und der Ev. Kirchengemeinde Erndtebrück im Wittgensteiner Land. Wir sind dankbar dafür und haben während eines gemeinsamen Wochenendes im August im Kloster Volkenroda bekräftigt, dass wir uns weiterhin treffen und die Kontakte lebendig halten wollen.

Angefangen hat alles in den 50er-Jahren. Trotz der Gründung zweier deutscher Staaten bestand die Gemeinschaft der Ev. Kirchen über die Grenzen hinweg fort. Jeder westdeutschen Kirchengemeinde wurde eine östliche Patengemeinde zugewiesen, auch mit dem Auftrag, sie materiell zu unterstützen. Über einige Umwege kamen so Erndtebrück und Müggelheim erstmals zueinander. Aber nach einiger Zeit schliefen die Beziehungen wieder ein. Erst in den 70er-Jahren kam erneut Bewegung in die Kontakte. Mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages zwischen DDR und BRD gingen Reiseerleichterungen einher. Eine noch bedeutsamere Rolle spielte aber der Generationenwechsel. Inzwischen war die erste Generation herangewachsen, die nur zwei deutsche Staaten kannte. Für viele Bundesbürger lag die Toskana näher als die DDR und für junge Menschen in der DDR war der Westen unerreichbar. Damit wuchs aber auch die Neugier aufeinander und der Wille, sich auszutauschen. So waren es, wie in vielen Gemeindebeziehungen zwischen Ost und West, auch aus Erndtebrück vor allem junge Leute, die Jahr für Jahr nach Müggelheim reisten. In dieser Zeit entwickelte sich aus der Patenschaft eine Partnerschaft. 

Will man die Bedeutung der kirchlichen Partnerschaften verstehen, muss man sich vor Augen halten, wie wichtig und verändernd die Möglichkeiten persönlicher Begegnungen in Zeiten des Blockdenkens, des Wettrüstens und der Indoktrinierung mit Feindbildern auf beiden Seiten waren. Ganz eindrücklich bezeugt das ein Bericht von Andreas Weyandt, einem ehrenamtlichen Mitarbeiter aus Erndtebrück. Die Gedanken von Jugendlichen aus Erndtebrück vor der ersten Begegnungsreise 1978 skizziert er so: „Ah, BERLIN Großstadt, da ist was los; oh, DDR, RUSSEN, ein ungutes Gefühl in der Magengegend; Auftauchen von ‚eingeimpften Feindbildern‘; verhaltene Ängstlichkeit; jedoch Abenteuerlust; Fahrt ins Ungewisse …“ Und sechs Jahre später: „Ah, Berlin, MÜGGELHEIM; liebenswerte Bekannte; FREUNDE; Feindbilder so ohne weiteres nicht haltbar; eine gewisse Sehnsucht nach dem Menschen und nicht nach dem ‚Abenteuer‘; wenn man nach Hause fährt, bleibt ein Teil von sich zurück; Müggelheim – ein Stück zweite Heimat; man ist bereit, vorgefasste Meinungen korrigieren zu lassen …“

„Auf Seiten der Gastgeber hat sich ähnliches ereignet“, stellt er fest. „Vor sechs Jahren: ‚West-Deutsche‘; die ‚Reichen‘ kommen zu den ‚Armen‘; reserviert; irgendwo aber auch neugierig; nicht gleich alles offen darlegen; Angst vor Nachteilen im Beruf, in der Schule … Heute (1984): Endlich sind unsere Freunde wieder da; es ist gut, dass sie uns gegenüber mit ihrem Reichtum nicht protzen; sie fühlen und denken genau wie wir; man kann voneinander lernen .... Es klingt vielleicht einiges etwas sentimental, aber es ist so! Feindbilder sind fast gänzlich verschwunden. Beide Gemeinden, Erndtebrück und Müggelheim, leiden darunter, dass der Besuch nur einseitig möglich ist. Und wenn wir in unsere Heimatgemeinde zurückkommen und erzählen, dann hört man uns jedes Jahr gespannter zu.“

Aus dem Zuhören wurde der Wunsch, selbst mitzufahren und eigene Erfahrungen zu sammeln. Den Jugendlichen schlossen sich Ehepaare und Familien an und besuchten einmal im Jahr zusammen mit der Erndtebrücker Pfarrerin Ruth Salinga die Müggelheimer Gemeinde. Sie ließen sich von der beklemmenden Atmosphäre beim Grenzübertritt nicht abschrecken und die Müggelheimer sich nicht von der Sorge vor Überwachung der Kontakte unterkriegen. 

Nach dem Fall der Mauer konnten Müggelheimer Gemeindemitglieder endlich auch Gegenbesuche abstatten. Die Freude darüber war auf beiden Seiten groß und die Erndtebrücker zeigten ihren Gästen nicht nur das Leben ihrer Kirchengemeinde, sondern auch die schöne Umgebung des Rothaargebirges. Zugleich mussten die Beziehungen aber auch neu justiert werden. Materielles Geben und Nehmen fielen weg. Beide Seiten konnten nun Gastgeber sein. Die Treffen fanden und finden seitdem wechselnd in Erndtebrück, Müggelheim und in kirchlichen Unterkünften an wechselnden Orten statt. Die Gesprächsthemen haben sich natürlich verändert. Aber auch im vereinten Deutschland ist es uns wichtig und jedes Mal ein Gewinn, die Situation der anderen wahrzunehmen und ihren Erfahrungen zuzuhören. Wir Müggelheimer erfahren z.B. von den Herausforderungen im ländlichen Raum, erleben, dass auch unsere Partnergemeinde mit schrumpfenden Gemeindemitgliederzahlen zu kämpfen hat und staunen über manche mutige Entscheidung, um diese Aufgaben zu bewältigen. So ein Blick über den Tellerrand der eigenen Kirchengemeinde und des eigenen Ortes hinaus tut gut. 

Über die lange Zeit sind tiefe und herzliche Freundschaften gewachsen, aber es findet auch wieder ein Generationenumbruch statt. Viele, die jahrzehntelang dabei waren, bewältigen die weiten Fahrten aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Superintendent Stefan Berk, der zusammen mit seiner Frau seit 1991 die Begegnungen von Erndtebrücker Seite her mitinitiierte, tritt eine neue Stelle an. Das war für uns Anlass, bei unserem Treffen in Volkenroda zu fragen: Setzen wir ein schönes und feierliches Ende wie fast alle ehemaligen Partnergemeinden oder haben wir Kraft und Lust, einen weiteren Wechsel anzupacken? Die Zustimmung für eine Fortsetzung war überwältigend eindeutig. Was 1984 galt, beschreibt auch ganz gut noch Eindrücke von unseren Begegnungen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung: „liebenswerte Bekannte; FREUNDE; Feindbilder so ohne weiteres nicht haltbar; eine gewisse Sehnsucht nach dem Menschen und nicht nach dem ‚Abenteuer‘; wenn man nach Hause fährt, bleibt ein Teil von sich zurück; man ist bereit, vorgefasste Meinungen korrigieren zu lassen …“