Krimi im Autobus anno 1935

Anekdoten und Ernstes aus der Geschichte Müggelheims

Dr. Michael Braun, Hönow

LANDESARCHIV BERLIN/REPRO: M. BRAUN

Wir wissen leider nicht, ob Doppeldecker wie dieser auch nach Müggelheim fuhren. Dazu gab es keine historischen Aufnahmen. Aber türlos waren sie alle.

Schon seit der Jahrhundertwende besaß Berlin ein ausgedehntes und hervorragend funktionierendes Nahverkehrssystem. Man kann ohne Übertreibung sagen, es war vorbildlich und wurde gelobt. Ortsteile am Stadtrand sind vorzugsweise mit Autobussen bedient worden, im Fall von Müggelheim war es die Bus-Linie A27. Der fuhr – zwar seltener – auch spät bis in die Nacht. An einem Herbsttag des Jahres 1935 dann plötzlich und unerwartet in dieser ländlichen Idylle ein schlimmer Zwischenfall.
Es war der 2. November kurz nach halb zwei Uhr in der Nacht, als der letzte A 27-Wagen Müggelheim in Richtung Köpenick verlässt. Diesen letzten Wagen nennen die Berliner „Lumpensammler“, heute indes gibt es auch einen Nachtbus, aber nur ganz wenige Lumpen. Der Bus fährt mit hoher Geschwindigkeit durch den Wald und kann nur mit Mühe etwa vier Meter vor einem über die Straße gespannten dicken Drahtseil anhalten.
Der Fahrer Karl Freytag und sein Schaffner Hans Hempler – sie hatten sich schon auf ihre molligen Betten in Köpenick gefreut – sind wenig amüsiert über den Vorfall, noch denken sie an einen Dumme-Jungen-Streich. Schaffner Hempler steigt aus, das Seil ist schnell vom Baum gelöst. Doch dann ruft eine schneidende Stimme aus dem Wald: „Hände hoch, Geld her“.
Die Männer reagieren instinktiv. Das Fahrgeld gehört ihnen zwar nicht, aber als echte Männer wollen sie es dennoch nicht kampflos hergeben. Immerhin ist Fahrer Freytag Träger des „Eisernen Kreuzes“ erster Klasse. Der oder die Räuber unterstreichen ihre „Bitte“ mit einem Pistolenschuss. Erst einmal wird dabei niemand verletzt, aber der Schreck sitzt tief. Was ist das jetzt?
Fahrer Freytag erfasst die Situation schnell, ruft seinem Schaffner zu, wieder aufzuspringen. Man erinnere sich: Zu jener Zeit ging das immer, denn die Busse besaßen keine Türen. Schaffner Hempler springt, wie ihm geheißen, der Räuber aber auch!
Das dramatische Geschehen verlagert sich nun in den Bus hinein. Freytag fährt verrückt wie in einem Krimifilm, in der Hoffnung den Räuber durch den offenen Einstieg abzuschütteln. Er schrammt dabei knapp an einem Unfall vorbei, aber das Abschütteln funktioniert trotzdem nicht, stattdessen zwei Schüsse in die Fahrerkabine. Wieder kein Treffer, Glück gehabt. In Höhe des bekannten Chausseehauses dann fährt der Bus so langsam, dass der Räuber abspringen kann. Der Wagen hat noch 60 Stundenkilometer drauf, kreuzgefährlich das Ganze. Außerdem: alles ohne Beute.
Bevor die beiden Busmänner endlich in ihre heißersehnten Betten dürfen, fahren sie zum nächstgelegenen Polizeirevier um eine Meldung zu dem Geschehnis zu machen. Das Attentat wird später als der neunte Autofallen-Überfall bezeichnet werden, der sich innerhalb von fünf Monaten auf Landstraßen im Osten Berlins zugetragen hat.
Erst mehrere Jahre später wird dieser Fall aufgeklärt. Ein Räuber aus Treptow wird als Schuldiger benannt. Er hatte vieles auf dem Kerbholz, meist handelte er zusammen mit seinem Bruder. Beide haben seit 1934 Liebespaare in ihren Autos mit Gewalt beraubt, insbesondere in Grunewald, dann auch im Berliner Südosten. Die Räuber treten stets bewaffnet auf, schrecken vor der Waffenanwendung nicht zurück. Und das, obwohl die Beute das nicht immer rechtfertigt.
Es handelt sich um die Gebrüder Götze, Transportarbeiter und Berufsverbrecher Walter Götze und seinen älteren Bruder, den Maurer Max. Beide wohnen in Treptow. Max hat Familie und ist leicht zu fangen, Walter indes taucht ab. Einer aufmerksamen Kneipenwirtin aus Schöneweide verdankt die Polizei den entscheidenden Hinweis auf dessen Aufenthalt und kann ihn arrestieren. Dem Überfall auf den Bus war eine sorgfältige Beobachtung des Fahrrhythmus durch Walter Götze vorausgegangen. So wusste er, dass der Bus nach der 2 Uhr-Tour aus Müggelheim leer ins Depot fährt, mithin die Geldtasche leicht zu erbeuten sein würde.
Die Gerichtsverhandlung gegen beide wird 1938 zum medialen Großereignis. Mehr als 100 Raubtaten wirft die Staatsanwaltschaft den Brüdern vor, zwei davon mit Todesopfern. Weil eines ihrer Opfer ein Polizeibeamter im Dienst ist, ergeht gegen den Mörder noch im selben Jahr die Todesstrafe. Gegen den Bruder wäre Gefängnis angemessen gewesen. Die seit einigen Jahren regierenden Nazis indes wollten derart Milde auf jeden Fall ausschließen.
In einer grotesk anmutenden Art und Weise wurde deshalb quasi über Nacht ein „passender“ Strafgesetzbuch-Paragraph per absurder Rechtsbeugung neu geschaffen, das so genannte „Autofallengesetz“. Damit konnte gerade noch rechtzeitig vor der Urteilsverkündung auch die Mittäterschaft des Bruders mit dem Tode bestraft werden. Grund genug, nach dem Kriegsende für die Alliierten, diesen Paragraphen zu kassieren. Die Bus-Verbindung A 27 konnte nach dem Kriegsende und zeitweiser Einstellung schon im November 1945 wieder aufgenommen werden, die örtliche Gauschule war schneller und bereits im August Gastgeberin für ein Jugendtreffen mit der Genossin Irma Thälmann gewesen. Trotzdem waren die Müggelheimer nach einigen Monaten der fast vollständigen Abgeschnittenheit sehr erleichtert über diese Fahrmöglichkeit, insbesondere zu ihren Arbeitsstätten.