Wer ist der freundliche Mann mit der Zeitung vor Edeka?

Was macht der "Mann mit der Zeitung" eigentlich am Sonntag? Foto: Hauth

Die Sonne scheint, es ist kühl an diesem Februar-Morgen. Ich spreche mit ihm vor der Tür von Edeka. Seine Worte sind klar und bedacht. Auf meine Nachfrage erzählt er mir seine Geschichte. Sie beginnt in den Bergen, im Süden Bayerns im Sommer 1963. Seine Mutter kommt infolge seiner Geburt in eine Nervenklink, sie wird für immer dort bleiben. Sein Vater flüchtet mit neuem Namen nach Österreich, er kennt ihn nur von einem einzigen Foto. Das Baby wird Robert genannt. Da er keine weiteren Familienangehörigen hat, kommt er in ein sehr konservatives Waisenhaus bei Deggendorf in Niederbayern. Es ist das Kloster Mallersdorf, mit eigener Kirche und vielen alten Nonnen. Robert sagt: "Für mich bedeutete das, morgens um Viertel vor sechs aufzustehen, um Viertel nach sechs zur Messe, die bis kurz vor sieben dauerte, dann Frühstück, im Anschluss machte jeder seine Aufgabe (putzen usw.) und dann ging's in die Schule." Da die Nonnen ihn äußerst schlecht behandelten, fragte er sich oft, wen die Frauen anbeten und ob es einen Gott überhaupt gibt. Die Nonnen lebten nach dem Motto: "Wen Gott liebt, den prüft er. Also wer leidet, der hat es gut." Damit konnten die Nonnen ihr Leben und ihr Handeln rechtfertigen, so Robert. Wenn es wirklich einen Gott gibt, findet er ihn nicht gerecht. Und wenn das Ganze nicht gerecht wäre, hätte ja alles keinen Sinn, überlegte er als Kind. Heute denkt Robert: "Man muss ein guter Mensch sein, egal zu wem man betet. Man muss Gutes tun, das ist wichtig." Er selbst tat es bereits mit sieben Jahren. Er rettete einem gleichaltrigen Kind das Leben, als dieses ins Eis einbrach und zu ertrinken drohte.

Da er des Öfteren aus dem Kloster weg-läuft, kommt er mit elf Jahren in ein Erziehungsheim in der Nähe von Weilheim, welches sich später als ein Arbeitslager herausstellte. Es befand sich in einem Steinbruch, in dem Granitpflastersteine geklopft wurden. Die Kinder dort waren zwischen zehn und 14 Jahre alt. Es gefiel ihm im Steinbruch besser als im Kloster, hier wurde er nicht körperlich misshandelt. Robert: "Wenn man sein Arbeitssoll gut erfüllt hatte, ließen sie einen in Ruhe." Er hatte einen Freund im Steinbruch, der auch schon mit ihm im Kloster war. Für ihn arbeitete Robert mit, da dieser die Arbeit nicht so gut packte. Robert sagt über ihn: "Der war noch ärmer dran als ich." Nach dem Steinbruch kommt Robert mit 14 Jahren in ein Waisenhaus in Augsburg. Es war wieder ein Orden, diesmal bei den Karmelitinnen. Diesen Aufenthalt bezeichnet er als Paradies. Dort trifft er auf die 65-jährige weise Schwester Oberin der Karmeliten, diese Schwester sucht ihn als Diskussionspartner und er kann mit ihr über Gott und Glauben philosophieren. Später wurde sie Generaloberin von allen Karmelitinnen.

Mit 18 Jahren winkt ihm endlich die Freiheit. Auf diesen Moment hat Robert so lange gewartet und er freut sich, dass es nun so weit ist. Er bekommt vom Waisenhaus sofort eine Wohnung und kommt mit Arbeiten auf dem Bau, sowie mit Tagesjobs vom Arbeitsamt über die Runden. Nicht alle alten Freundschaften aus den Waisenhäusern taten ihm gut und er verliert schnell den Halt – und die Wohnung. Er erfährt draußen ein Verhalten von Menschen, welches ihn überrascht "Nicht der, der am längsten wartet ist der Beste, sondern der, der am schnellsten zugreift, ist am besten dran. Mit der Tugend Geduld erreicht man nicht so viel." Darüber ist er enttäuscht, er hatte es doch anders gelernt.

Robert ist noch keine 20 Jahre alt, als er in ein Obdachlosenasyl geht. Dort beschließt er für immer die Finger vom Alkohol zu lassen, da er dort Alkoholiker im Endstadion kennenlernt und sieht, wo Alkohol den Menschen hin führen kann. Es gelingt ihm. Damit sei er einer der ganz wenigen, der "nicht durch Alkohol gefrustet ist", sagt er. Der jugendliche Robert bewundert einen älteren Mann, der im Sommer mit dem Fahrrad von Portugal nach Norwegen radelt und im Winter zurück. Robert bewundert dessen Freiheit und möchte eines Tages auch so frei sein. Heute sagt Robert darüber: "Das ist ein hartes Leben, sich bei Wind und Wetter so durchzuschlagen. Im heutigen System gibt es keine Freiheit, außer dort, wo Eingeborene leben".

Von heute auf morgen entscheidet er sich 1988 Augsburg zu verlassen. Er kauft sich ein Bahnticket nach Berlin. Er fährt allein. Seine Kumpels trauen sich nicht aus Augsburg weg. In Berlin verspricht er sich eine Insel für Gestrandete zu finden, eine Weltstadt die Tag und Nacht offen steht. Er findet diese Welt in Kreuzberg und Neukölln. Da er das Landleben und die Natur mag, fährt er ab und an aus der Stadt raus aufs Land.

Etwa 2009 besucht er das erste Mal mit dem Fahrrad das ländliche Müggelheim. Ungefähr vier Jahre später kommt Robert täglich zu seinem heutigen Arbeitsplatz. Denn ja, für ihn ist es sein Arbeitsplatz zu dem er an jedem Werktag pünktlich erscheint und von morgens bis abends dort steht. Er mag die Menschen hier, er findet sie sehr freundlich, "über 95 Prozent grüßen mich", sagt er. Am Anfang fährt Robert noch jeden Abend zurück in die Stadt und schläft unter einer Brücke oder in einer Ruine, was besonders im Winter sehr hart ist. Jetzt bleibt er in der Nähe von Müggelheim und liest am Abend noch ein paar Seiten in einem Buch. Dafür hat er eine Taschenlampe erhalten.

Beim Arbeitsamt um Hilfe bitten und viele Formulare ausfüllen möchte er nicht, er sieht darin auch keine Chance auf eine Wohnung. Auch hat er Angst, dass er das Geld, welches er vom Amt bekommen würde, zu schnell ausgeben könnte und dann nichts mehr hätte. Da ist es ihm sicherer, es so zu machen wie jetzt. Robert sagt: "Alles was ich anhabe und was ich besitze, habe ich von den Müggelheimern geschenkt bekommen. Mir ist es egal, wie alt die Sachen sind, die Hauptsache ist, die Sachen sind warm und nützlich. Das liebste was ich bekam waren diese warmen Winterstiefel." Er schaut nach unten und freut sich noch immer sehr über die Schuhe, die er vor ein paar Wochen von einer Frau geschenkt bekam. Er freut sich über jeden einzelnen Cent. Während unseres Gesprächs grüßt er freundlich alle, die an uns vorbeigehen. Ein junger Mann gibt ihm ein in Alufolie verpacktes Frühstück. Robert möchte sich auf diesem Weg bei allen Müggelheimern bedanken, insbesondere bei Edeka-Inhaber Patrick Leher. Denn ohne all diese Menschen würde Robert hungern und noch mehr frieren.

Eine Familie hätte er schon gerne gehabt, sagt er, dann würde er nicht so leben und hätte auch eine Ausbildung gemacht. Er wäre am liebsten Landschaftsgestalter. Aber es hat nicht so sein sollen... Pamela Hauth