Geschichten aus dem Müggelwald

Emil & Sieglinde - eine wahre Geschichte

Von Frank Sydow

Ende August – der Dackel vom Nachbarn will sich heut so gar nicht beruhigen. Ich bewege mich in die Richtung, aus der das unaufhörliche Gebelle kommt. Es geht bis an das Ende unseres Gartens, dann sehe ich den Grund seiner Aufregung: Ein kleiner Eichkater, scheinbar aus dem Nest gefallen, liegt da genau vor meinen Füßen. Und nun? Ich nehme das kleine Kerlchen auf und begutachtete es auf Verletzungen. Nichts, alles in Ordnung.
Ich schaue mich um, in der Hoffnung, ein erwachsenes Tier zu sehen. Keiner da. Also schiebe ich das zitternde Bündel unter meine Jacke. Hier beginnt es zugleich sich häuslich einzurichten. So laufe ich also einige Stunden durch Garten und Haus, immer mit dem Eichkater unter der Jacke, und hatte Zeit mir zu überlegen, was ich nun mit dem Tier tun sollte. Im immer hilfreichen Internet finde ich schnell Hinweise, was mit solchen Findelkindern zu machen ist. Dem äußeren Anschein nach war es etwa fünf Wochen alt. Dem Gewicht nach jedoch nicht. Der Kleine war hoffnungslos untergewichtig. 78 Gramm, viel zu leicht für sein Alter.
Nun versuchen meine Frau und ich das erste Mal, etwas Milch in den kleinen Kerl zu bekommen. Na ja, das war noch recht mühsam. Als nächstes musste ein Schlafplatz hergerichtet werden. Dafür legen wir ein kleines Handtuch in einen Schuhkarton, stecken eine Fleece-Socke in einen Objektiv-Köcher und fertig war ein kuscheliges Nest. Nun noch den Kleinen rein und fertig. Der Tag war wohl so aufregend für ihn, dass er sofort einschlief.
Der nächste Morgen begann für uns ganz normal. Meine Frau fährt zur Arbeit, ich arbeite von Zuhause aus. Doch daran war erst einmal nicht zu denken. Der Kleine wurde mobil. Noch sehr vorsichtig und ohne den Schuhkarton zu verlassen. Ich nehme ihn aus seinem Nest und schiebe ihn wieder unter meine Jacke, wo er sich sofort wieder wohl fühlt und einschläft. Körperkontakt soll gut sein, hatte ich gelesen - stimmt. Jetzt ging es daran, ihm Nahrung zuzuführen, und zwar etwas professioneller als am Vorabend. Das Internet ist voll mit klugen Ratschlägen Aufzugsmilch hier, Tropfen gegen Blähungen dort, na ja. Babymilch aus dem Supermarkt macht es auch. Injektionsspritze war da, dann kann’s ja los gehen. Milch anwärmen und aufziehen, 5 ml, ganz schön wenig. Steht aber so im Internet. Nun das Baby aus der warmen Jacke holen. Gefällt ihm gar nicht. Als es jedoch merkte, dass es was zu fressen gibt, lässt es sich kaum noch von der Spritze trennen. Das war geschafft, die erste richtige Fütterung. Die gleiche Prozedur alle drei Stunden – Tag und Nacht. Der zweite Tag begann wie der erste aufhörte. Schlafen, fressen, schlafen fressen usw. Gegen Mittag steht meine Schwiegermutter neben meinem Schreibtisch und fragt mich ganz ungläubig, ob ich das Hörnchen wieder raus gesetzt hätte. Nee – natürlich nicht. Warum sollte ich. Dann ist da jetzt noch eines. Tatsächlich: an fast derselben Stelle lag da noch so ein Häufchen Elend.Offenbar ein Geschwister, noch winziger und mit 68 Gramm noch leichter. Und so müde.
Das Nest mit dem Brüderchen, das hatten wir inzwischen ermittelt, kam da gerade recht. Von nun an heißt es, zwei Rationen Milch zu erwärmen. Bei der Menge war das natürlich kein Thema. Die Fütterung der beiden gestaltete sich jedoch von Tag zu Tag schwieriger. Sie wurden mobiler, gingen auf erste Erkundungstouren und die kleine Behausung musste ersetzt werden. Ab in den Zoofachhandel und einen Käfig gekauft. Ja super, Heu rein, Kiefernzweige aus dem Wald und die geliebte Socke. Umzug. Jetzt mussten Namen her. Wir einigten uns schließlich auf Emil und Sieglinde. Der Neuzugang war also ein Mädchen. Von nun an musste die ganze Familie ran, wenn es um die Fütterung ging. Eine Liste, die wir führten, half uns zu verfolgen, wer wie viel an welchem Tag wog.
Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, kennt jeder, stimmt absolut. Zwölf Gramm in den ersten zehn Tagen. Das kann ja heiter werden. Das Prozedere war immer das gleiche. Milch erwärmen, mittlerweile haben wir noch Haferflocken untergemengt, Spritzen aufziehen und nur einen der kleinen Geister aus dem Käfig nehmen und füttern. Beide gleichzeitig geht nicht mehr. Während einer gefüttert wurde, macht der andere Blödsinn. Hauptquartier war die Küche. Hier gab es allerlei zu entdecken. Es war Anfang Oktober, die Abstände zwischen fressen und schlafen wurden nun größer und damit auch der Bewegungsdrang. Wir mussten sie also auch raus lassen, wenn es nichts zu fressen gab. Das war’s. Jetzt wurden die Kräfte und die Geschicklichkeit gemessen. Die ersten Sprünge waren noch recht unsicher, da wurde schon mal eine Zwischenstation genommen. Vom Käfig auf die Arbeitsplatte, von dort über die Kaffeemaschine, Heizung zum Obstkorb, dann weiter über den Herd. Herunterhangeln am Geschirrtuch auf den Boden die Küche queren. Mülleimer, Beistelltisch, Herd und wieder zurück zum Käfig. Aber es ging auch noch höher. Gardinen hoch, auf der Stange balancieren und auf die Hängeschränke. Hui, das macht Spaß. So wurden sie von Tag zu Tag geschickter und kräftiger. Jedoch nicht stark genug für die harte Welt da draußen. 320 Gramm sollten sie dafür haben, wovon beide noch meilenweit entfernt waren.
Da unsere Schützlinge für die Auswilderung noch zu leicht waren, besuchten wir die Rettungsstelle für Eichhörnchen im Land Brandenburg, und hier bekamen wir auch wertvolle Hinweise für die Pflege unserer Kobolde, die wir nun wohl über den Winter bringen mussten. Was zur Folge hatte, dass wieder eine größere Behausung benötigt wurde. Käfig Nummer zwei und drei, die inzwischen von Freunden und Bekannten gesponsert wurden, waren jetzt auch zu klein.
Bis jetzt wohnten sie im Wohnzimmer mit Blick in den Garten und gefressen wurde mittlerweile alles, was auch große Hörnchen zu sich nehmen, und das wurde im Käfig verabreicht. Zum Toben ging es in die Küche. Dazu öffnete ich den Käfig, worauf beide fast gleichzeitig an mir klebten. Mit den Kletten an mir machte ich mich auf in die Küche. Hier lösten sie sich sofort und übernahmen das Revier. Inzwischen waren Sprünge von ein bis zwei Metern kein Problem mehr, und ihre Ausdauer kannte keine Grenzen. Waren sie dann nach mehreren Stunden toben müde, war es einfach, sie zu überlisten: Eine Socke wurde platziert, und bald darauf waren beide darin und schliefen. Im „Schlafsack“ trug ich sie in den Käfig.
Bei ihren Beutezügen durch die Küche wurde so ziemlich alles untersucht, angeknabbert oder weggetragen, ganze Brötchen von Frühstückstisch stibitzt und auf geradem Weg auf der Gardinenstange abgelegt, Nüsse und Kerne in der gesamten Küche verteilt. Wer weiß, vielleicht kommt ein harter Winter. Ganz besonders haben es die Hörnchen auf Zitronen und Limetten abgesehen. Mit großer Leidenschaft wurde die ganze Frucht fein säuberlich geschält. Beim Öffnen einer Schranktür mussten wir sehr achtsam sein, um nicht versehentlich einen der beiden einzusperren. Die kleinen Biester waren so schnell! An unseren Beinen hoch, Körper, Arme, Hände, Schrankgriff und ab in den Schrank. Könnte ja was Interessantes drin sein. So hatten wir und die beiden ihren Spaß.
Der Winter entschloss sich, etwas milder zu sein als befürchtet. Das hieß für die Hörnchen erneut Umzug. Diesmal nach draußen auf die Terrasse. In die kalte, nasse und windige Wirklichkeit. Die Voliere wurde von drei Seiten verpackt und die Ausflüge in die Küche wurden seltener. Von nun an ließen sie sich nicht mehr so einfach in die Spielstube tragen. Der Kontakt zwischen uns beschränkte sich von nun an auf das Füttern mit Hasel-, Wal- und Zirbelnüssen sowie gesammelten Zapfen. Auch den Haferbrei mochten sie immer noch gerne.
Bei einer Fütterung durch meine Frau entwischte Freund Emil eines morgens durch die offene Tür. Einen Satz in die Eibe, 20 Meter über den Weg, über den Zaun und ab in die nächste Fichte. Alle Versuche, ihn zum Zurückkommen zu bewegen, Fehlanzeige. Dann war er nicht mehr zu sehen. Wir standen tausend Ängste aus und plötzlich war Sieglinde allein. Dann, nach zwei Tagen, sah ich den verlorenen Sohn in der Fichte des Nachbarn. Mit Nüssen in der Hosentasche und meiner ausgestreckten Hand näherte ich mich ihm. Und tatsächlich kam er nach kurzem Zögern auf meine Schulter gesprungen. War ich froh, dass er das Abenteuer heil überstanden hatte!
Jetzt konnte ich ganz gemütlich mit ihm ins Haus gehen. In der Küche, die er wohl so sehr vermisst hat, trank und fraß er, als hätte er zwei Tage gar nichts zu sich genommen. Völlig müde krabbelte er in seine geliebte Socke und ich konnte ihn wieder zu Sieglinde in den Käfig setzen. Erst am zweiten Tag nach seiner Heimkehr zeigte er sich wieder. War wohl doch recht anstrengend, der erste Ausflug in die Freiheit. Von nun an wurden die Aktivitäten deutlich geringer. Sie stellten sich auf den Winterrhythmus ein. Das hieß: früh aufwärmen; hier wurden Kreise im Käfig gezogen, mit einer Ausdauer, die uns erstaunte. Danach fressen und für den Rest des Tages schlafen.
März - der Winter ist vorbei, und die Hörnchen werden wieder aktiver. Die Enge des Käfigs war jetzt nicht mehr zu übersehen. Es wurde Zeit für sie, und auch für uns, voneinander Abschied zu nehmen. Wir stellten den Käfig nun befreit von allen Isolationsumbauten, in die Nähe einer Kiefer in unseren Garten. Dort brauchten sie etwa eine Woche, um sich an den neuen Standort zu gewöhnen. Wir zeigten uns nur noch selten. Ganz unspektakulär öffneten wir den Käfig eines Morgens und sahen zu, wie sie ihr neues Reich in Anspruch nahmen. Erst ganz vorsichtig, doch dann immer mutiger, auf Ästen und Zweigen balancieren, und schließlich größere Sprünge machen. Von Ast zu Ast, dann von Baum zu Baum und ab in den Wald.
Gerade heute habe ich einen der beiden wieder im Garten gesehen. Hoch auf der Kiefer, offensichtlich sehr gesund und munter. Diesen beiden kleinen Kerlchen auf den ersten Metern ihres Lebens geholfen zu haben ist ein prima Gefühl. Wir würden die Aufgabe immer wieder übernehmen.